Lieber Attila
Ich hatte die ganze letzte Woche frei, weil an der Schule, an der ich im Moment als Vikarin unterrichte, eine Projektwoche stattfand. Diese Woche hatte ich bis am Mittwoch frei, da Sporttage stattfanden. Man könnte also sagen, ich hatte zusätzliche Herbstferien. Die eigentlichen Herbstferien beginnen in zwei Wochen.
Ich wollte diese Zeit eigentlich zum Schreiben an meiner aktuellen Geschichte nutzen. Doch es kam alles anders. Stattdessen kam ein sehr starker Impuls, mir alle Harry Potter Hörbücher anzuhören. Ich folgte diesem Impuls, obwohl mein Verstand, oder vielmehr mein innerer Kritiker, mich deswegen immer wieder ausgescholten hat. Die 7 Hörbücher fand ich alle in ungekürzter Verfassung auf YouTube. 6 der 7 Bände hatte ich vor Jahren schon zwei Mal gelesen. Nur der 7. Band war mir völlig unbekannt. Ich machte mich also an die Arbeit. Ich kam mir dabei vor, wie ein Marathonläufer. Ich sass oft bis zu 12 Stunden am PC und habe mir die Hörbücher angehört. Dazu habe ich gehäkelt und genäht. Ich liebe das. Ich empfand jede unangekündigte Unterbrechung extrem störend.
Harry Potter ist ziemlich schwere Kost, aus meiner Sicht jedenfalls. Ich habe mich beim Zuhören beobachtet und festgestellt, dass ich sofort für Harry und seine Freunde, sprich für die "Guten", Partei ergriffen habe. Ich war bestürzt, als jemand von ihnen bei einem Kampf verletzt oder gar getötet wurde. Wie konnte die Schriftstellerin nur so etwas schreiben! Wieso liess sie die "Guten" sterben! Je weiter ich jedoch in der Geschichte fortschritt, desto mehr wurde mir bewusst, dass auch die Todesser (Bösen) eine Familie hatten, ihre Kinder und Eltern liebten, um ihr Leben bangten, wenn sie beim Versuch, Harry zu töten oder gefangen zu nehmen, gescheitert waren. Denn Voldemort war mit Versagern gnadenlos. Er folterte sie oder tötete sie, ohne mit der Wimper zu zucken.
Als Harry zwei seiner Tod-Feinde aus dem ausser Kontrolle geratenen Dämonenfeuer gerettet hat, habe ich mich gefragt, ob ich das an seiner Stelle auch getan hätte?
Ich kam zum Schluss, dass es nie darum geht, dass "Böse" (die Schatten in mir) auszumerzen, oder spiritueller ausgedrückt, zu transformieren, sondern sie als das anzunehmen und zu akzeptieren, was sie sind. Mit anderen Worten: Eine Medaille hat immer zwei Seiten, in diesem Fall eine Gute und eine Böse. Es geht darum, dass ich lerne, mich in der Mitte zwischen diesen beiden Polen aufzuhalten, dass ich herausfinde, wo, zwischen den beiden Polen ich mich am wohlsten fühle, sodass ich authentisch sein kann.
Harry hat im Verlaufe der Geschichte seine Eltern, seinen Paten, den Schulleiter durch Kämpfe gegen Voldemort verloren. Am Schluss hatte er niemanden mehr, der ihn wirklich vor Voldemort beschützen konnte. Niemand sagte ihm mehr, was er tun könnte, wie er sich am besten verhalten sollte, oder wie er vorgehen könnte, um alle Horkruxe zu finden. Er war ganz auf sich alleine gestellt bei dieser Mission, von deren Gelingen oder Scheitern sein eigenes Leben und das der verbliebenen "Guten" abhing.
Genauso habe ich mich gefühlt (und fühle mich des Öftern immer noch), als meine Mutter im März 2019 gestorben ist. Sie hatte mir bis dahin immer gesagt, was ich tun soll, was gut für mich ist. Sie hat mir auch zu Kursen oder Ausbildungen geraten oder mir von ihnen abgeraten. Und nun musste ich plötzlich alle Entscheidungen selber treffen, selber abschätzen, ob die von mir ins Auge fasste Ausbildung die richtige oder die falsche für mich ist. Ich wusste nur eins: Ich wollte unbedingt so schnell wie möglich aus meinem Lehrerberuf heraus. Ich wollte ihn für immer hinter mir lassen. Auf der Suche nach meiner wahren Berufung habe ich in den verschiedensten Bereichen Ausbildungen absolviert. Doch sie führten immer in eine Sackgasse. Sie fühlten sich urplötzlich völlig unstimmig an. Da mir als Kind immer wieder eingebläut wurde, dass man beendet, was man beginnt, habe ich mich durch die Ausbildungen hindurchgequält. Erst in jüngster Zeit habe ich mich getraut, zwei Ausbildungen abzubrechen, weil sie mich in eine Sackgasse führten.
Wenn ich eine Ausbildung begonnen habe, war ich immer fest davon überzeugt, dass es das Richtige für mich ist. Ich habe mich richtig ins Zeug gelegt und wollte einen guten Abschluss erzielen. Doch dann drängte sich eine spirituelle Erkenntnis in mein Leben, die die begonnene Ausbildung sinnlos machte. Es fühlte sich für mich dann jedes Mal so an, wie wenn ich zwei Meter vor der Ziellinie einfach stehen blieb, unfähig einen weiteren Schritt zu tun, während die anderen Teilnehmer an mir vorbei ins Ziel einliefen, und ich dann seitlich auf einen anderen Weg gedrängt wurde, der neben dem von mir angestrebten Ziel vorbeiführt, ins Unbekannte. Ich fühlte mich jedes Mal als kompletter Versager, unfähig die wahre Berufung zu finden.
Doch eigentlich geschah genau das Gegenteil. Ich näherte mich mit jeder "gescheiterten" Ausbildung meiner wahren Berufung. Ich habe mir angefangen die Frage zu stellen, warum ich diese Ausbildung überhaupt machen wollte, was ich mir davon versprochen hatte. Es stellte sich heraus, dass ich einen in der Gesellschaft angesehenen Beruf ausüben wollte, dass ich unbedingt aus meiner (angeblichen) Intelligenz etwas machen wollte. Meine Mutter hat das von mir verlangt. Da kamen nur gewisse Berufe in Frage. Mode-Designer, Banker, Manager, Akademiker, Geschäftsleiter in einer Firma, Arzt, Tierheilpraktiker, Therapeut, Live-Coach ...
Der Lehrerberuf war für mich nie ein angesehener Beruf. So nach dem Motto: Schliesslich ist jeder einmal zur Schule gegangen und weiss, wie Schule funktioniert. Und das, was mir wirklich grosse Freude und Zufriedenheit gibt, nämlich Geschichten schreiben und künstlerisches Schaffen in verschiedenen Bereichen, ist brotlose Kunst (wurde mir beigebracht). Also habe ich es mit Mode-Design, Kunsttherapie, Tierheilpraktiker, Tierkommunikation und Live-Coaching versucht. Es kam noch die Überzeugung dazu, dass Selbständigkeit besser ist als Angestellt zu sein. Doch spirituelle Erkenntnisse, liessen alle Seifenblasen zerplatzen. Tja, nun sind nur noch das Unterrichten, das Schreiben und das künstlerische Schaffen im Rennen.
Der Lehrerberuf war bisher das "Böse" in meinem Leben. Ich wollte es um jeden Preis weghaben, loswerden, eliminieren. Wie oben bereits erwähnt, geht es jedoch darum, das Böse als das zu akzeptieren, was es ist, und es zu integrieren. Also begann ich mir über den Lehrerberuf Gedanken zu machen. Ich hatte bisher immer das Gefühl, dass ich auf eine bestimmte Art und Weise zu unterrichten hätte, so, wie ich es vor Jahren gelernt hatte. Diese Art Unterricht widerspricht jedoch meinem Naturell. Ich habe mich entschieden, so zu unterrichten, wie ich es für richtig halte, egal, was die anderen Lehrpersonen und die Schulleitung davon hält. Tja, obwohl ich es für unmöglich hielt, macht mir das Unterrichten im Moment sogar Spass! Auch mit der Klassenführung läuft es im Moment gut.
Was das Schreiben anbelangt, habe ich festgestellt, dass ich mich, obwohl ich Schweizerin bin und die Schriftsprache für mich eine Fremdsprache ist, mich in Wort und Schrift gewandt auszudrücken vermag. Der Schreibkurs 'Herztraining' hat mir gezeigt, dass ich meine Gefühle problemlos in Worte zu fassen vermag. Ich vermag dem Leser Themen in einer Geschichte verpackt näher zu bringen. In diesen Geschichten kann ich meine Gefühle, mein Wissen und meine Erkenntnisse zum Ausdruck bringen, ohne jedes Wort auf die Goldwaage legen zu müssen, wie ich es bei einer Beratung oder bei einem Coaching tun müsste. Die Leser können selber entscheiden, ob sie mit meinen Geschichten etwas anfangen können. Ich liebe illustrierte Bücher und werde meine Geschichten auch selber illustrieren.
Zurück zu Harry Potter. In Band 7 muss Harry gegen Voldemort kämpfen. Voldemort ist ein brillianter Zauberer und kennt sich mit schwarzer Magie bestens aus. Er ist Harry haushoch überlegen. Harry ist sich dessen bewusst. Trotzdem stellt er sich dem Kampf, oder besser Duell. Die Schriftstellerin beschreibt Harrys Gang zum Duellplatz sehr eindrücklich. Harry weiss, dass er nur noch ein paar Minuten zu leben hat.
Mir kam dabei sofort die Meditation 'Der letzte Tag' in den Sinn. In den letzten Tagen habe ich mir jeden Tag vorgestellt, dass es der letzte Tag in meinem Leben ist. Das hat bewirkt, dass ich nur Dinge getan habe, die ich wirklich tun wollte. Ich habe es sogar geschafft, mir keine Gedanken mehr darüber zu machen, wie es bei mir weiter geht. Es hatte plötzlich für mich überhaupt keine Bedeutung mehr. Es war mir nur noch wichtig, was ich jetzt gerade an diesem Tag tun wollte. Ich habe intuitive Impulse viel besser wahrgenommen und nichts mehr als selbstverständlich angenommen. Ich konnte auch meine Gefühle annehmen, egal ob angenehm oder unangenehm, ohne sie gleich weghaben zu wollen.
Als ich die Hörbücher zu Ende gehört hatte, wusste ich plötzlich, wie es in meiner Geschichte weitergeht. Nun war ich natürlich doppelt froh, dass ich auf den Impuls, mir alle 7 Bände anzuhören, geachtet habe.
Liebe Grüsse
Pia