Lieber Attila und Interessierte
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Kapitel 5: Die 5. Raunacht
Kurz bevor ich an die Stelle gelange, wo ich querwaldein gehen muss, stosse ich auf einen auf dem Waldweg stehenden Pferde-Schlitten. Der Schlitten ist im Weiss des Schnees kaum zu sehen. Je näher ich dem Schlitten komme, desto grösser wird die Sehnsucht, in diesen Schlitten zu steigen und mit ihm durch den verschneiten Märchenwald zu fahren.
Plötzlich taucht auf dem Kutschbock eine rote Gestalt auf.
Die rote Feuerkatze!
Mein Herz hüpft vor Freunde! Ich beschleunige meine Schritte.
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Murielle Rufus: Und? Was sagst du jetzt?
Ich: Toll! Ich bin begeistert! Danke, Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Gerne, gerne! – Steig ein!
Ich: Gleich! Ich möchte nur kurz die Pferde begrüssen!
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Ich gehe am Schlitten vorbei zu den beiden Pferden und bleibe staunend neben ihnen stehen. Es sind keine gewöhnlichen Pferde! Das Fell der beiden Pferde besteht aus transparenten Eiszapfen-Haaren. Die Mähne und der Schweif bestehen ebenfalls aus Eiszapfen-Haaren, nur gröber und grösser als die Mini-Eiszapfen, ja fast Mikro-Eiszapfen, des Fells. Sonnenstrahlen durchstossen den Hochnebel und berühren die Pferdekörper. Sie beginnen zu funkeln und zu glitzern. Die dabei entstehenden Farben werden auf den am Boden liegenden Schnee projiziert. Was für ein herrliches und betörendes Schauspiel.
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Murielle Rufus: Streichle sie ruhig!
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Ich trete näher an den Kopf des linken Eiszapfen-Pferdes heran und strecke sie Hand langsam in Richtung Nüstern aus. Das Pferd streckt mir den Kopf entgegen. Zu meinem grossen Erstaunen fühlen sich die Nüstern warm und weich an, wie bei einem gewöhnlichen Pferd! Ich trete näher an das Pferd heran und streiche ihm sachte über die Stirn. Auch die Stirn fühlt sich wie bei einem gewöhnlichen Pferd an! Nun streiche ich dem Pferd mit der rechten Hand durch die Mähne. Ein wohlklingendes Glockenspiel, verursacht durch die aneinanderstossenden Eiszapfen-Haare, ertönt. Dieses Glockenspiel schlägt mich richtig in seinen Bann. Meine Hand streicht ganz automatisch durch die Eiszapfen-Mähne.
Das Scharren mit dem Vorderhuf und das Schnauben des zweiten Pferdes brechen diesen Bann. Ich trete an das zweite Pferd heran. Es streckt sogleich den Kopf vor und stupst mich mit seinen weichen Nüstern gegen die Brust. Ich streiche auch ihm erst über die Stirn und dann durch die Eiszapfen-Mähne. Wieder ertönt ein feines Glockenspiel, aber viel höher als beim ersten Pferd. Faszinierend! Ich trete nun vor die beiden Pferde, sodass ich mit der rechten Hand durch die Eiszapfen-Mähne des ersten Pferde und mit der linken Hand durch die Eiszapfen-Mähne der zweiten Pferdes streichen kann. Die Klänge der beiden Eiszapfen-Mähnen sind tatsächlich aufeinander abgestimmt! Wie wunderbar! Ich hätte ewig durch die beiden Eiszapfen-Mähnen streichen können! Ich muss mich richtig losreissen.
Die rote Feuerkatze liegt zusammengerollt auf dem Kutschbock und scheint zu schlafen. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch der Schlitten aus unzähligen verschieden grossen und verschieden geformten Eiszapfen besteht. Die Einen sind gebogen. Andere sind gerade und abgeplattet. Andere sind rund und laufen in eine Spitze aus, so ähnlich wie eine Nadel. Wieder andere sind wie Locken gedreht und bilden die Verzierung. Der Schlitten lädt zum stundenlangen Betrachten ein.
Ich reisse meinen Blick los, steige in den Schlitten und nehme Platz. Murielle Rufus richtet sich auf, streckt sich nach Katzenart, springt mir ohne Vorwarnung auf den Schoss, rollt sich zusammen und beginnt zu schnurren. Die beiden Pferde setzen sich in Bewegung. Sie brauchen offenbar keinen Kutscher, der sie lenkt. Sie tragen auch kein Fahrgeschirr! Wie sie wohl mit dem Schlitten verbunden sind? Das liebliche Glockenspiel der beiden Eiszapfen-Mähnen ertönt.
Die beiden Pferde biegen rechts in der Wald ab und wählen den Weg so, dass der Schlitten problemlos zwischen den Bäumen hindurchpasst. Die Pferde traben an. Ich geniesse die Schlittenfahrt!
Plötzlich taucht vor uns eine mehrere Meter hohe Schneewehe auf. Sie zieht sich quer durch den Wald und verliert sich auf beiden Seiten im Weiss des Schnees. Der Schneesturm hat diese Schneewehe aufgetürmt. Die beiden Pferde traben unbeirrt direkt auf die Schneewehe zu. Ob sie sie übersehen haben? Soll ich die rote Feuerkatze darauf aufmerksam machen?
Mittlerweile sind die beiden Pferde schon dicht an die Schneewehe herangerückt und machen immer noch keine Anstalten, rechts oder links abzubiegen. Zu meinem Erstaunen beginnt sich die Schneewehe zu teilen, sodass ein Durchgang quer durch die Wehe entsteht, wie eine Klus im Gebirge. Sobald der Pferde-Schlitten den Durchgang passiert hat, werfe ich einen Blick nach hinten. Die beiden Hälften der Schneewehe schieben sich wieder zusammen!
Weiter geht es durch den Märchenwald. Die nächste Schneewehe ist bereits in Sicht. Die beiden Pferde nehmen wieder Kurs auf die Schneewehe. Sie traben mit konstanter Geschwindigkeit auf die Wehe zu. Ich befürchte schon, dass sie mit ihr zusammenstossen, als sich sozusagen in letzter Sekunde ein Eis-Rolltor öffnet. Hinter dem Rolltor befindet sich ein Eistunnel. Im Tunnel ist es hell, obwohl nirgend eine Lampe zu sehen ist. Das Licht bricht sich in den Eiswänden. Es zaubert die schönsten Farben hervor.
Auf der anderen Seite des Eistunnels fährt wieder ein Rolltor hoch und entlässt uns in den Märchenwald. Kurze Zeit später taucht die Zaubereiche auf. Ihre Äste sind wieder belaubt und mit Schnee bedeckt. Die beiden Pferde halten in unverändertem Tempo auf den mächtigen Stamm der Zaubereiche zu. Sie machen keinerlei Anstalten, vor dem Stamm zu stoppen. Und schon befinden wir uns in der Bibliothek.
Zu meinem Erstaunen geht die Schlittenfahrt in der Bibliothek weiter. Die beiden Pferde und der Schlitten haben sich sozusagen verwandelt, und zwar in zwei Schimmel und in eine weisse Königskutsche. Die Kutschfahrt zum Tisch dauert eine ganze Weile. Ich geniesse jede Minute in vollen Zügen!
Murielle Rufus springt von meinem Schoss mit einem gewaltigen Sprung direkt auf die Tischplatte. Ich steige aus, gehe zu den beiden Pferden und streiche ihnen über die Stirn und noch einmal durch die jetzt seidige, weisse Mähne. Dann trete ich zur Seite. Die Pferde setzen sich in Bewegung. Ich schaue der Kutsche nach, bis sie zwischen den Regalen verschwunden ist.
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Murielle Rufus: Und? Wie hat dir die Schlittenfahrt gefallen?
Ich: Es war eine wunderbare Fahrt! Ich war im siebten Himmel!
Murielle Rufus: Genau das habe ich beabsichtigt!
Ich: Danke, Murielle Rufus!
Murielle Rufus: Gerne, gerne! – Das Thema der fünften Raunacht ist Entwicklung und Verbindung.
Ich: Da bin ich mal gespannt, was für Fragen du mir stellst ...
Murielle Rufus: Welche Eigenschaften an anderen bewunderst du besonders?
Ich: Ich bewundere Lebensberater, die immer wissen, welche Antwort sie auf die Frage des Klienten geben müssen, welche Frage sie als nächstes stellen müssen, um das Gespräch am Laufen zu halten und in die gewünschte Richtung zu lenken.
Murielle Rufus: Und welche Eigenschaft noch?
Ich: Lehrpersonen, die eine natürliche Autorität haben und dadurch eine Klasse mit Leichtigkeit zu führen vermögen.
Murielle Rufus: Und welche noch?
Ich: Menschen, die sofort auf Fremde zugehen und mit ihnen ein Gespräch beginnen.
Murielle Rufus: Und wo findest du diese auch in dir?
Ich: Mir fehlen diese Eigenschaften!
Murielle Rufus: Nein! Denn was du an anderen bewunderst, ist auch in dir vorhanden. Diese Eigenschaften möchten auch von dir gelebt werden. Sie schlummern tief in dir drin und warten darauf, dass sie endlich aufwachen dürfen.
Ich: Bei der Bildbesprechung in der Kunsttherapie-Ausbildung bin ich immer stecken geblieben, wenn ich die Rolle der Therapeutin inne hatte. Ich hatte keine Ahnung, welche Antwort ich geben, oder welche Frage ich stellen sollte.
Murielle Rufus: Doch, du wusstest es! Du hattest nur Angst, etwas Falsches zu sagen. Du hattest Angst, dass deine Fragen zu persönlich oder gar verletzend sein könnten.
Ich: Mag sein.
Murielle Rufus: Es ist so. Denk darüber nach!
Ich: Die natürliche Autorität fehlt mir aber. Mir fällt es nämlich sehr schwer, eine Klasse zu führen! Deshalb macht mir Unterrichten auch keinen Spass! Deshalb habe ich auch das Gefühl, im falschen Beruf zu sein!
Murielle Rufus: Jeder Mensch hat eine natürliche Autorität! Deine natürliche Autorität liegt nur tief vergraben. Sie wurde in deiner Kindheit durch unerfreuliche Erlebnisse immer mehr und mehr verschüttet. Die Klassenführung scheitert daran, dass du in die Rolle des Schülers fällst. Du stellst alle Menschen, denen du begegnest, egal ob Erwachsene oder Kinder, immer sofort über dich, sozusagen auf ein Podest. Deshalb fällt es dir auch sehr schwer auf andere Menschen zuzugehen, sie anzusprechen. Du hast gelernt, dass Kinder zu warten haben, bis die Erwachsenen ihr Gespräch beendet haben. Du hast gelernt, dass Kinder zurückhaltend, still, höflich … zu sein haben. Man könnte auch sagen, du hast gelernt, dass Kinder unsichtbar zu sein haben. Und genau in diese Rolle fällst du, wenn du anderen Menschen begegnest.
Ich: Ganz schön hart.
Murielle Rufus: Die Wahrheit ist immer hart, Pia Ursula. Schönreden bringt dich jedoch keinen Schritt weiter.
Ich: Das ist mir schon klar.
Murielle Rufus: Dann sind wir uns ja einig.
Ich: Und was kann ich dagegen tun?
Murielle Rufus: Jetzt benutzt du wieder das Wort „dagegen“!
Ich: Ich meinte: Wie kann ich vorgehen?
Murielle Rufus: Der erste Schritt ist immer zu akzeptieren, dass es im Moment so ist. Der zweite Schritt besteht darin, ganz bewusst zu bemerken, wenn du in diese Rolle fällst. Der dritte Schritt: Sage innerlich sofort „stopp“! Ich bin kein Kind mehr! Ich bin eine mündige Erwachsene! Dann stellst du dich ebenfalls aufs Podest! Der vierte Schritt: Hab Geduld mit dir! Vermeide es, dich zu verurteilen, wenn du in diese Rolle fällst. Das ist ganz wichtig. Es ist ein Prozess, der lange dauern kann! Gib dir diese Zeit! Nur dann kann wirkliche Heilung stattfinden!
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Eine längere Schweigepause tritt ein. Ich fühle mich leer, machtlos, erschöpft.
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Murielle Rufus: Welche deiner Freundschaften möchtest du vertiefen?
Ich: Die Freundschaft mit Karin und Sophie.
Murielle Rufus: Wie könntest du den ersten Schritt dazu tun?
Ich: Ich möchte mich häufiger, regelmässiger mit ihnen zu einem Gespräch treffen oder mit ihnen eine Bahnreise durch die Schweiz unternehmen.
Murielle Rufus: Welche Beziehungen nähren deine Seele wirklich?
Ich: Meine Beziehung zur Natur, zu Tieren, Pflanzen, zum Schreiben, zur Kunst und zu den oben erwähnten Freundinnen.
Murielle Rufus: Kommen wir zur Lektüre.
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Die rote Feuerkatze schiebt mir wieder das Schneekristall-Buch zu. Es öffnet sich von selbst an der richtigen Stelle, ohne Umblätter-Show-Einlage.
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Ich: Nummer 15: Der Teufel.
Murielle Rufus: Lies vor, was du geschrieben hast.
Ich: Die verführerischen und tückischen Ablenkungen erkennen, die mich von meinem Ziel wegführen wollen.
Murielle Rufus: Der Teufel hält jedoch auch dein Selbstbild von dir aufrecht. Er möchte, dass du in der Rolle des Kindes bleibst. Deshalb ist es sehr wichtig, dass du dich genau beobachtest.
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Eine kurze Schweigepause tritt ein.
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Ich: Dieses Mal ist nur ein Traum!
Murielle Rufus: Lies vor!
Ich: Traum: Meine Mutter fährt ein Moped. Ich sitze mit dem Rücken zur Fahrtrichtung auf dem Gepäckträger, meine Beine von mir gestreckt, wie auf einem Stuhl. Ich trage Stulpen. Meine Schuhe schleifen auf der Strasse. Der linke Stulpe rutscht über den Schuh und streift sich ab. Er bleibt mitten auf der Strasse liegen. Ich lasse es geschehen und schaue auf den zurückbleibenden Stulpen, bis er ausser Sichtweite ist. Ich versuche vergeblich, ihn mit meinen Gedanken zu mir zu rufen.
Als meine Mutter an einer Kreuzung anhalten muss, springe ich kurzerhand ab. Ich will den verlorenen Stulpen holen. Zuerst gehe ich auf der Strasse. Als ich meine Mutter mit dem Moped kommen sehe, weiche ich in die angrenzende Wiese aus. Das Gras ist zuerst nur kurz, wird aber sozusagen mit jedem Schritt, den ich mache, höher und dichter. Das Gras wird mehr und mehr von Raps abgelöst. Ich kämpfe mich durch das Rapsfeld. Meine Mutter ist mir schon dicht auf den Fersen. Das Raps wird von noch dichter stehendem Getreide abgelöst. Es handelt sich um mannshohen Roggen. Ich komme kaum noch voran. Meine Mutter holt mich immer mehr ein. Der Roggen wird von mir bis zu der Brust reichenden Spaghetti abgelöst. Sie stehen so dicht, dass ich darin stecken bleibe. Ich drücke mit aller Kraft gegen die noch ungekochten Spaghetti. Sie geben etwas nach, sodass ich wieder voran komme. Ich kämpfe mich in Richtung Strasse durch die Spaghetti. Meine Mutter bleibt etwas zurück.
Sie ruft mir zu: "Seit meinem Tod bist du komisch!"
Murielle Rufus: Und deine Deutung?
Ich: Die Fahrt auf dem Moped könnte mein Leben bis zum Tod meiner Mutter symbolisieren. Der Stulpe könnte Dinge symbolisieren, die mir viel bedeutet habe, die ich aber zurücklassen musste. Er könnte auch Tätigkeiten symbolisieren, für die mir keine Zeit gelassen wurde, die keinen Platz in meinem Leben hatten, obwohl ich sie liebte. Gras, Raps, Roggen, Spaghetti könnte schwierige Situationen, Glaubenssätze, Überzeugungen symbolisieren, die mich am Vorankommen hindern. Der Zuruf meiner Mutter. Sie möchte, dass ich so bleibe, wie ich war, als sie noch lebte.
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Liebe Grüsse
Pia